B. Stettler: Die Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert

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Titel
Die Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert. Die Suche nach einem gemeinsamen Nenner


Autor(en)
Stettler, Bernhard
Erschienen
Zürich 2004: Verlag Markus Widmer-Dean
Anzahl Seiten
438 S.
Preis
URL
von
Sebastian Brändli

Geduld und Beharrlichkeit sind keine besonders modern anmutenden Tugenden. Der Forschertyp, der sich Zeit seines Lebens einem bestimmten Gegenstand in aller Sorgfalt widmet, ist unter den Bedingungen der modernen Wissenschaft selten geworden. Ein Vertreter dieser Spezies ist aber Bernhard Stettler, der sich lebenslang mit der Herausgabe des Werks des Glarner Historikers Aegidius Tschudi beschäftigt hat, und der in seinem Buch über das 15. Jahrhundert der Eidgenossenschaft sich sozusagen die Quintessenz seines Lebenswerks aus dem Herzen schreibt.

Lebenswerke haben es in der Regel in sich, dass sie keinen Paradigmenwechsel einleiten, sondern einen solchen allenfalls konsolidieren. Letzteres ist bei Stettler der Fall. Die Entlarvung der Gründungsgeschichte der schweizerischen Eidgenossenschaft als Mythos des 19. Jahrhunderts geschah bereits seit den 1950er Jahren durch den damaligen Zürcher Mediävisten Marcel Beck, publikumswirksam fortgeführt durch den Beck-Schüler Otto Marchi, der 1971 mit seiner «Schweizergeschichte für Ketzer» auch einer weiteren Öffentlichkeit das Ende des Paradigmas näherbrachte. Das Verlassen eines Paradigmas ist das eine, ein neues zu schaffen das andere. In seinen Überlegungen zum Paradigmenwechsel ging Thomas S. Kuhn davon aus, dass ein Paradigma vor allem durch den Erfolg eines neuen überwunden wird. Im vorliegenden Fall verlief der Vorgang allerdings anders. Die Überwindung des Gründungsmythos-Paradigmas erfolgte zwar mit Argumenten, doch eine gesicherte Neuinterpretation liess noch einige Zeit auf sich warten. Die bisher wichtigste Station für eine solche war wohl die unterdessen zum Standardwerk anvancierte Verfassungsgeschichte der Alten Schweiz, die Hans Conrad Peyer 1978 vorlegte. Peyer untersuchte im kleinen Band insbesondere die staatsrechtlichen und -politischen Bedingungen der Jahrhunderte nach 1291, stellte die damals entstehende Eidgenossenschaft in den Rahmen gleichzeitiger, durchaus vergleichbarer «Bünde» und prägte für die staatsrechtliche Qualität des frühneuzeitlichen Zustands unseres Territoriums den Begriff Bundesgeflecht, um den labilen, nach vorne offenen Charakter zu betonen und die nur potentielle Festigkeit der damaligen Eidgenossenschaft vom späteren, gefestigten Zustand des Bundesstaates abzugrenzen.

Stettlers Werk fusst in seinen Interpretationen in diesen langjährigen Auseinandersetzungen. Seit den frühen 1970er Jahren hat der Autor selbst an dieser Debatte durch regelmässige Beiträge in der SZG und in der wissenschaftlichen Kommentierung von Tschudis Werk teilgenommen. Die lebenslange Beschäftigung mit dem Glarner Historiker hat für Stettlers Werk eine klare Rahmensetzung abgegeben. Zum einen strotzt seine Quintessenz von einem Materialreichtum, der seinesgleichen sucht. Zum andern hat Tschudi in gewisser Weise auch die von Stettler angewandte Methode vorgeprägt: trotz einer längeren Einleitung mit sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtlichen Bemerkungen bleibt Stettlers Hauptaugenmerk auf klassischer Analyse und Deutung der auf uns gekommenen Zeitdokumente– neben der Analyse der Verträge und Vereinbarungen kommt auch den diversen Chroniken ein hoher Stellenwert zu. Trotz – oder eventuell gerade wegen – dieser methodischen Fokussierung und Festigkeit gelingt Stettler die Formulierung des neuen Paradigmas besonders überzeugend. Er beschreibt so letztlich mit den Mitteln der Ereignisgeschichte, wie an die Stelle des Gründungsmythos das spezifische Ringen um die Eidgenossenschaft im Verlaufe des 15. Jahrhunderts zu setzen ist. Für die Neubewertung der Verträge in ihrer Entwicklung setzt Stettler an die Stelle von Peyers Bundesgeflecht den Begriff Bündnisverbund. Mit der Verdoppelung von Bund in diesem Begriff betont er stärker die politischen Aspekte, die zur Besonderheit der schweizerischen Eidgenossenschaft geführt haben. Nochmals: Die Besonderheit besteht nicht in der Existenz eines Bundes im 15. Jahrhundert (deren gab es viele), sondern in deren Fixierung, Festigung und Weiterführung, welche zunächst im Rahmen des Römischen Reichs, dann in langsamer Ablösung und Verselbständigung erfolgte.

Stettler folgt den politischen Ereignissen und schreibt insbesondere dem Schwabenkrieg und dem Alten Zürichkrieg sowie dem Erwerb und der Verwaltung Gemeiner Herrschaften einen hohen Stellenwert für das geschilderte räumliche Zusammenwachsen, für das entstehende System gegenseitiger Verpflichtungen und – zentral – für den Aufbau des kulturellen Zusammenwachsens (Identitätsbildung) zu. Daneben werden aber eine Unzahl anderer relevanter Prozesse und Entwicklungen dargestellt, was zu einem sehr komplexen Gesamtbild zusammengefügt wird. Diese Komplexität wird für den Leser noch verstärkt durch zwei zusätzliche Zugänge. Zum einen flicht der gewiefte Didaktiker zwecks besserer Veranschaulichung zwölf Quellentexte in den Fliesstext ein, zum anderen werden die Illustrationen aus den Schweizerchroniken mit ihrerseits nochmals instruktiven Legenden versehen. Dazu kommt, dass im Text selber häufig längere Passagen direkt aus den Quellen exzerpiert werden, was einem des Schweizer Dialekts nicht mächtigen Leser eine zusätzliche Leseschwelle aufrichten dürfte.

Der schön gestaltete Band behandelt eine für die schweizerische Eidgenossenschaft in der Tat konstitutive Phase. Er ist in hohem Masse lesenswert, wenn auch für den Leser anspruchsvoll. Er fasst die Grundzüge des neuen Paradigmas über das Entstehen der schweizerischen Eidgenossenschaft in überzeugender Weise zusammen.

Zitierweise:
Sebastian Brändli: Rezension zu: Bernhard Stettler: Die Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert. Die Suche nach einem gemeinsamen Nenner. Zürich, Verlag Markus Widmer-Dean, 2004. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 55 Nr. 3, 2005, S. 341-342.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 55 Nr. 3, 2005, S. 341-342.

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